Werte und Glauben

Die Suche nach dem Sinn

5. September 2023 von Sarah Nägele
Was glaubt Österreich? Die Uni Wien-Religionsforscherinnen Regina Polak und Astrid Mattes möchten gemeinsam mit dem ORF mit Menschen ins Gespräch kommen und besser verstehen, woran sie glauben und wonach sie ihr Leben ausrichten.
Das Projekt "Was glaubt Österreich?" soll einen Raum schaffen, um über die pluralen Sinn- und Lebenswelten der Österreicher*innen zu sprechen. © Pexels/ Mikhail Nilov

Event - Tipp: Tagung im Wiener Rathaus

Am Dienstag, 28. November 2023, findet von 10 bis 19.45 Uhr die Tagung „Krise der Demokratie – Rolle der Religion“,  unter Mitwirkung von Regina Polak, in der Volkshalle im Wiener Rathaus statt.

In den Vorträgen, Workshops und Diskussionen wird die aktuelle Krise der Demokratie dargestellt und die Rolle der Religion hierbei diskutiert. Weiters soll die inter- und transdisziplinäre Entwicklung von Handlungsperspektiven und konkrete Aufgaben für verschiedene gesellschaftliche Bereiche identifiziert werden.

Mehr Info 

Die Erosion von Gottesglauben und religiöser Praxis ist eine Entwicklung, die in Westeuropa seit den 1970ern stattfindet – und auch Österreich ist von ihr nicht ausgenommen. Eine Langzeitstudie, die die religiösen Einstellungen der Österreicher*innen regelmäßig erhebt, ist die Europäische Wertestudie, an der das Institut für Praktische Theologie der Uni Wien beteiligt ist. "Bei der letzten großen Studie 2017/2018 ist uns aufgefallen, dass die traditionellen, religiösen Parameter – also der Glaube an Gott, das Gebet und der Kirchgang – alle massiv zurückgehen," erklärt Theologin Regina Polak, "und zwar immer deutlicher."

Entkoppelung von Gottesglauben und traditioneller Religionspraxis

Im Rahmen der Wertestudie 2017/18 gaben zwar 73% der Österreicher*innen an, an Gott zu glauben – die Zahl jener, die regelmäßig beten und Gottesdienste besuchen, liegt jedoch weit darunter. Es findet also neben der Erosion eine Art Entkoppelung von Gottesglauben und traditioneller, religiöser Praxis statt. Dazu passt, dass immer mehr Menschen in Österreich aus der Kirche austreten – das gilt sowohl für die katholische, als auch für die evangelische Kirche. Diese Effekte haben sich seit dem Beginn der Pandemie noch verstärkt.

"Mich interessiert: Tritt etwas an diese Stelle und wenn ja, was?", erklärt Polak, und diese Frage ist nicht nur für die Theologin, sondern auch für Sozialwissenschafterin Astrid Mattes und die Religionsjournalist*innen des ORF interessant. Und so haben sich Polak und Mattes, die beide am Forschungszentrum "Religion and Transformation in Contemporary Society" tätig sind, mit der Redaktion für Religion und Ethik des ORF zusammengetan und das Kooperationsprojekt "Was glaubt Österreich?" ins Leben gerufen.  

Frau in einer katholischen Kirche
Immer mehr Menschen in Österreich – sowohl katholische, als auch evangelische – treten aus der Kirche aus. © Pexels/David Besh

Ein Projekt auf zwei Schienen

"Angesichts des Schwundes traditioneller, religiöser Vorstellungen sind wir daran interessiert, wie Menschen heute ihre Sinn-, Glaubens- und Wertvorstellungen konzipieren," fasst die Theologin Polak zusammen und führt das gemeinsame Forschungsinteresse so aus: "Was den ORF und uns verbindet, ist die Frage, wie sich die europaweiten Veränderungen im religiösen Feld in Österreich zeigen."

Im Wesentlichen läuft das Projekt auf zwei Schienen. Die Hauptabteilung für Religion und Ethik im ORF hat eine multimediale Sendereihe produziert, die sich mit einem bunten Programm über das ganze Jahr streckt und Raum schafft für die "großen Fragen" des Lebens: Von Portraits von Mitgliedern der 16 anerkannten Religionsgemeinschaften bis zur TV-Doku "Liebe, Glück und Gott" ist alles abgedeckt. Mattes und Polak haben das Programm mitbegleitet, indem sie ihren religionswissenschaftlichen Background zur Verfügung stellten und mit der Redaktion über religiöse Begriffe und Sinnkonstrukte diskutierten.

Buntes Programm im ORF

Einen Überblick über die multimediale Sendereihe "Was glaubt Österreich?" im ORF gibt es hier. Online abrufbar sind zum Beispiel fünf Audioportraits über junge Menschen und ihren Glauben oder eine TV-Interviewreihe zu Glaubensfragen in Bereichen wie Freiheit, Glück und Hoffnung.

Publikum mit Umfrage einbinden

Um das Publikum in die Diskussion über Sinnfragen miteinzubinden und erste wissenschaftliche Daten zu erheben, führen die Uni Wien Wissenschafterinnen parallel dazu eine qualitative Erhebung durch. "Wir laden Menschen dazu ein mit uns zu teilen, von ihren Sinnkonzeptionen zu erzählen und wie sie diese in ihrem alltäglichen Handeln zum Ausdruck bringen," erzählt Theologin Polak.

"Religion muss aus religionswissenschaftlicher Sicht immer mehrere Dimensionen erfüllen, um als solche bezeichnet werden zu können," erklärt Mattes: "Wir haben versucht, die zentralsten Dimensionen von Religion  in die journalistischen Fragestellungen und in unseren Fragebogen einzubringen." Als Beispiele dafür nennt sie die Dimensionen Sinnstiftung, Gemeinschaftsbildung, Handlungsführung – welche Rituale haben wir? – und ethische Orientierung, auch im Sinne von Gerechtigkeitsfragen.

Was glaubt Österreich?

"Was glaubt Österreich?" ist ein interdisziplinäres Mixed-Methods-Projekt, das Forschung und Medienarbeit kombiniert. Die Motivation ist innovative Wege in der Konzeptualisierung der Befragung zu Glaubensthemen einzuschlagen und Forschungskommunikation neu zu gestalten.

Breiten Raum öffnen

Der Fragebogen konnte bis Ende Juli online ausgefüllt werden. "Auf Basis dieser ersten qualitativen Erhebung erstellen wir dann einen repräsentativen quantitativen Fragebogen," fährt Polak fort. Die Religionsforscherinnen erhoffen sich so, einen breiteren Raum abseits der traditionellen religionssoziologischen Erhebungen zu eröffnen. In traditionellen Umfragen finde man zum Beispiel oft die Ja-Nein-Frage "Glauben Sie an Gott?", vielleicht noch mit dem Zusatz: "Wie stellen Sie sich Gott vor?" .

"Aus der internationalen Forschung wissen wir aber, dass sich die Gottesbilder stark verändern und viele Menschen mit einem klassisch christlichen Verständnis nichts mehr anfangen können," erklärt Polak, "wir hoffen durch die erste Umfrage herauszufinden, mit welchen anderen Bildern und Vorstellungen Gott verbunden wird." Auch Feste, Rituale und Praktiken werden über christliche Traditionen hinaus abgefragt. In der Folgestudie könne man dann prüfen, ob die Bilder repräsentativ sind: "Am Ende können wir hoffentlich sagen, wie plural die österreichischen Sinn- und Glaubensvorstellungen sind."

Individuelle Sinnkonstrukte

"Wir haben über 1200 Antworten von Menschen aller Altersgruppen erhalten, was unsere Erwartungen um ein vielfaches übertroffen hat," erzählt Mattes. Momentan befinde man sich mitten in der Auswertung, es sei daher zu früh um über konkrete Ergebnisse zu sprechen. Es zeichne sich aber ab, dass vor allem Fragen nach dem Sinn des Lebens sehr individuell und immanent gedacht werden. Bei der Frage nach Glaubensvorstellungen würden dann aber doch viele Menschen von transzendenten Weltbildern, etwa von einer höheren Kraft, vom Glauben an eine Bestimmung oder auch von einem traditionellen Gottesbild erzählen, so die Religionsforscherin weiter. Die beiden Fragen scheinen vor allem bei jüngeren Menschen nahezu entkoppelt.

Die Kooperation mit dem ORF ist aus Sicht der Wissenschafterinnen sehr wertvoll, da sie ihnen einen konkreten Zugang zu vielen Menschen und deren tatsächlichen Lebenswelten verschafft. "Wir sprechen so viel über Werte und darüber, was uns als Gesellschaft trennt oder verbindet, aber eigentlich wissen wir wenig dazu," erklärt Mattes, "um mehr zu verstehen, braucht es neue, sozialwissenschaftliche Befragungsinstrumente. Es ist toll, dass wir die auf diese Weise entwickeln können." Dabei ist ihr wichtig zu betonen, dass es bei diesem Austausch keineswegs nur um die Differenzlinie religiös/säkular, sondern um weitere Distinktionen wie alt/jung oder konservativ/progressiv gehe.

Der Diskurs fehlt

Aus Sicht der Theologin Polak fehlt zur Wertefrage bisher ein Diskurs auf der Mesoebene, also einer der sich zwischen dem persönlichen und dem politischen Diskurs auf der gesellschaftlichen Ebene abspielt: "Werte und Sinn sind heute hochgradig politischen Interessen ausgesetzt. Ich glaube das funktioniert, weil es zu wenig demokratischen und öffentlichen Diskurs darüber gibt." Die Theologin hält es für eine weit verbreitete Vorstellung, dass Sinnfragen in den privaten Bereich gehören und nicht öffentlich diskutiert werden – und genau das mache sie so gut politisierbar. "Wir gehen davon aus, dass wir die Krisen, in denen wir uns momentan befinden, nicht nur mit Wissenschaft, Politik, Technik und Wirtschaft lösen können. Die Frage nach den leitenden Sinnorientierungen im Hintergrund ist zentral."

© derknopdruecker.com
© derknopdruecker.com
Regina Polak ist Professorin am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen religiöse Transformationsprozesse in Europa, Religion im Kontext von Migration, Werteforschung und theologische Grundfragen einer Kirche im Umbruch.
© derknopfdruecker.com
© derknopfdruecker.com
Astrid Mattes ist Tenure Track Professorin für sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Forschungszentrum "Religion and Transformation in Contemporary Society".In ihrer Forschung beschäftigt sie sich empirisch mit Fragen an der Schnittstelle von Religion und Politik.