Russlandbilder in der amerikanischen (Populär)Kultur

"Es gibt nicht das eine Russland"

3. November 2023 von Hanna Möller
Heute blicken wir auf Russland durch die Linse des Krieges. Doch einst war es kulturelles Epizentrum, mal eine in Alaska wütende Kolonialmacht, für andere ein Zufluchtsort. Uni Wien-Amerikanistin Katharina Wiedlack begibt sich auf Spurensuche nach den verschiedenen Russlandbildern in der US-Geschichte.
Katharina Wiedlack wirft in ihrem aktuellen Forschungsprojekt einen Blick auf die (gar nicht so neue) Imperialgeschichte Russlands. Im Bild: Die Hauptstadt von Russisch-Amerika im heutigen Alaska gemalt von Aleksandr Olgin. © Wikipedia/public domain

Schon Mark Twain schwärmte von den Prima Ballerinas, den Romanovs und der russischen Hochkultur und prägte mit seinen Zeilen die amerikanischen Vorstellungen über das russische Zarenreich. Doch es gibt nicht das eine Russland – dass die Perspektiven auf Russland immer schon divers waren, zeigt Amerikanistin Katharina Wiedlack in ihrem aktuellen Projekt "Rivals of the Past, Children of the Future". Ihr Streifzug durch die amerikanische Geschichte führt sie zurück in das 19. und 20. Jahrhundert – zu russischen Besetzer*innen in Alaska und schwarzen Amerikaner*innen, die in Russland Solidarität und Anti-Rassismus erlebten.  

Russland als Imperialmacht

Alaska und Sibirien trennen 85 Kilometer Beringstraße voneinander. Was die Gebiete vereint, ist die gemeinsame Geschichte: Beide Landstriche wurden von Russland kolonialisiert. Nachdem die Zobelbestände (in Sibirien heimische Marderart, Anm.) der Sibirischen Steppe und der Halbinsel Kamtschatka nahe der Ausrottung waren, verhalf Alaska dem russischen Imperium zu einer Monopolstellung im Pelzhandel: Alaskisches Seeotter wurde als "flauschiges Gold" vornehmlich nach China verkauft. Für den rollenden Rubel wurde die indigene Bevölkerung Alaskas unterjocht und gewaltvoll zur Seeotterjagd gezwungen, erzählt Katharina Wiedlack, die im Sommer 2022 alaskische Archive nach russischen Spuren durchsuchte. "Aufgrund von Hungersnöten und eingeschleppten Krankheiten dezimierte sich die alaskische Bevölkerung unter russischer Herrschaft stark."

Dennoch hielt sich die Kolonialmacht lang – Alaska wurde erst 1867 für schlappe 7,2 Millionen Dollar an die USA verkauft (bis heute einer der günstigsten Landkäufe der Geschichte). Der Grund für die lange Vorherrschaft dürfte in der "russischen Strategie" liegen: "Russische Männer, die nach Alaska kamen, waren angehalten, sich mit indigenen Frauen zu verheiraten. Es entstand eine Kreolschicht, die sich heute noch im Zensus der russisch-orthodoxen Kirchen in Alaska widerspiegelt." Das russische Modell wurde in den angrenzenden USA mit regem Interesse verfolgt: "Das Bild der russischen Kolonialist*innen wurde herangezogen, um sich einerseits abzugrenzen, aber auch um die amerikanischen Mechanismen besser sehen zu können", erklärt Wiedlack im Interview.

Russland als freizügiger Zufluchtsort für Afroamerikaner*innen

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine starke und selbstbewusste Schwarze Bewegung und damit eine erneute Debatte um den bestehenden anti-schwarzen Rassismus in den USA aufflammte, formten sich ausgerechnet in Russland, dessen Bolschewistische Revolution die USA mit Argusaugen und Feindseligkeit betrachtete, solidarische Kräfte. Bereits Lenin zeigte Interesse für die schwierigen Verhältnisse der African Americans. "Aus strategischen Gründen", wie Wiedlack erklärt: "Die Sowjetunion suchte Verbündete im kapitalistischen Amerika." 1932 wurden im Zuge dessen rund 20 Intellektuelle, Schriftsteller*innen und Musiker*innen aus den Black communities für ein nie realisiertes Filmprojekt nach Russland eingeladen – unter ihnen Aktivistin Louise Thompson und Schriftstellerin Dorothy West. 

Lesetipp: A feminist becoming?

Katharina Wiedlacks Artikel "A feminist becoming?" (Feminismo/s, 2020) begleitet die sozialistische Aktivistin Louise Thompson (später Patterson) und Schriftstellerin Dorothy West auf ihrer berüchtigten Reise nach Sowjetrussland. In Reiseberichten, Korrespondenzen und Memoiren der Frauen werden ihre geschlechtsspezifischen Erfahrungen und Berührungspunkte mit der sozialistischen Frauenbefreiungsbewegung analysiert. 

"Anti-Rassismus und Solidarität mit Afroamerikaner*innen gehörten zu den patriotischen Pflichten in Sowjetrussland, ebenso wie die Gleichstellung der Geschlechter", beschreibt Wiedlack, die sich für ihr Projekt mit der Reiseliteratur von Thompson und West beschäftigt. Die Delegation der schwarzen Amerikaner*innen wurde dementsprechend wie Celebrities gefeiert und erlebte in Moskau erstmals ein Gefühl der Freiheit von Rassismus und Geschlechterunterdrückung.

In Russland und dem sowjetischen Zentralasien setzte sich Thompson mit den Lebenszusammenhängen von Frauen auseinander und fand "ganz wichtige, für sie neue politische Alternativen." Zurück in Amerika war sie Teil der amerikanischen schwarzen Bewegung und ebnete den Weg für die Theorie der Intersektionalität (Intersektionalität erklärt in der Vielfalt-Mediathek) : "Die Doppel- und Dreifachbelastung, die wir seit den 1990er Jahren Intersektionalität nennen, hat Thompson bereits in den 1940er Jahren – inspiriert durch ihre Russlandreise – beschrieben. Sie hat damit bedeutende Theoriearbeit geleistet, die nicht besonders stark rezipiert wird, aber wahnsinnig wichtig ist."

Ausstellungstipp: Close[t] Demonstrations

In dem Projekt "The Magic Closet and the Dream Machine: Post-Soviet Queerness, Archiving, and the Art of Resistance" im Rahmen der Forschungsplattform GAIN nähert sich Katharina Wiedlack dem queeren Leben im postsowjetischen Raum durch künstlerische Formen an. Es ist als Reaktion auf die zunehmende Homo- und Transphobie in den postsowjetischen Ländern entstanden.

Erste Projekt-Ergebnisse werden vom 3. November bis zum 24. November im Kunst- und Kulturzentrum der ehemaligen Semmelweisklinik (Centre for Arts and Culture Vienna, Hockegasse 37, 1180) ausgestellt. Weitere Informationen

To be continued

Einer weiteren, fast vergessenen Perspektive auf Russland ist Wiedlack noch auf der Spur: Den Erfahrungen von schwarzen Amerikaner*innen, die vor der russischen Revolution in Russland waren, als in den USA noch Sklaverei herrschte. "Diese Perspektive wäre quasi das Verbindungsstück meiner Recherchen." Doch die Quellenarbeit der umtriebigen Forscherin wird durch den aktuellen Angriffskrieg auf die Ukraine erschwert: "Es gibt kaum noch eine Möglichkeit, einen Blick in die russischen Archive zu werfen. Das ist eine große Schwierigkeit für mich, um das Thema weiter anzugehen."

Es geht nicht um ein vollständiges Bild, das Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, sondern um die vielen, verschiedenen Blickwinkel.
Katharina Wiedlack

Krieg gegen die Ukraine – eine Weiterführung des russischen Imperialismus

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat mit einem Schlag klar gemacht, dass Russland seine imperialistische Politik unverhohlen fortschreibt, so Wiedlack, die bereits seit Jahren russisch-amerikanische Verhältnisse erforscht. Der wohl wichtigste Widerstand gegen den Imperialismus kommt von jenen, die bereits seit Jahrhunderten unter ihm leiden: den russischen indigenen Menschen, etwa von den Burjaten. Sie werden im aktuellen Krieg weitaus mehr an der Front eingesetzt als weiße ethnisch russische Menschen – "das ist eine Weiterführung des Genozids und dagegen stellen sich die indigenen Gruppen. Sie finden Koalitionen und Solidarität in anderen Initiativen, etwa Amerikanischen Native Americans, und besonders Alaska Natives", erklärt Wiedlack weiter: "Und hier setzt meine historische Forschung an: In dem Aufsuchen der unsichtbar gemachten Schnittpunkte, die Ideen und Alternativen für transozeanische Solidarität bilden kann." (hm)

Katharina Wiedlack ist Assistenzprofessorin für Anglophone Kulturwissenschaften am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich der amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften, der amerikanisch-russischen Beziehungen sowie der postsozialistischen, dekolonialen und dis/ability Studien.