Materialien der Zukunft

Molekulare Problemlöser

2. November 2023 von Redaktion
Schon mal von Polyoxometallaten (kurz POMs) gehört? Diese molekularen Metall-Sauerstoff-Verbindungen spielen eine wichtige Rolle in der Industrie sowie medizinischen Forschung und haben für die Zukunft noch einiges auf Lager, erklärt die Chemikerin Annette Rompel.
Von der Entwicklung von Batterien und Brennstoffzellen über die Herstellung von Arzneimitteln bis hin zur Reduktion von Schadstoffen in der Umwelt: POMs sind von weltumspannender Bedeutung und ein "Spielball" für innovative Forschung, wie Andreia Roche in ihrer Illustration der winzigen 3D-Strukturen aus Metallatomen und Sauerstoff veranschaulicht. © Andreia Rocha

Rudolphina: Annette Rompel, Sie forschen zu Polyoxometallaten, auch POMs genannt. Das sind vereinfacht gesagt komplexe Metallverbindungen in wässrigen Lösungen, die wichtig in der Katalyse, Biologie oder Medizin sind. Wie wurden POMs überhaupt entdeckt und verbreitet?

Annette Rompel: Polyoxometallate sind schon seit dem 18. Jahrhundert bekannt; grundlegend erforscht und breit angewendet wurden sie allerdings erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1826 beschrieb der schwedische Chemiker Jöns Jacob Berzelius erstmals das Phosphor-Molybdän-Säuresalz, ein einfaches POM.

Im 19. Jahrhundert wurden weitere POMs entdeckt und untersucht, darunter das sogenannte "Keggin-Ion", benannt nach dem britischen Chemiker James F. Keggin, der die Struktur in den 1930er Jahren aufklärte. Während dieser Zeit wurden POMs hauptsächlich für ihre färbenden Eigenschaften in der Glas- und Keramikherstellung geschätzt. Das Wissen über POMs und ihre vielseiten Anwendungsmöglichkeiten verbreiterte sich im 20. Jahrhundert mit dem Fortschreiten der chemischen Forschung und Analysetechniken.

Polyoxometallate (POMs)

Polyoxometallate (POMs) sind eine Familie chemischer Verbindungen, die aus Metallatomen, meist Übergangsmetallen wie Molybdän und Wolfram, und Sauerstoffatomen bestehen. Diese Verbindungen bilden komplexe, dreidimensionale Clusterstrukturen und zeichnen sich durch ein breites Anwendungsspektrum aus. Aufgrund ihrer einzigartigen chemischen Eigenschaften werden POMs in Forschung und Industrie häufig zur Bewältigung einer Vielzahl von Herausforderungen eingesetzt.

Rudolphina: Wie hat dieses Material unseren heutigen Alltag geprägt?

Annette Rompel: Polyoxometallate haben uns in vielerlei Hinsicht beeinflusst und geprägt, hauptsächlich aufgrund ihrer einzigartigen chemischen Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten. Sie haben unser Verständnis von Chemie und Materialwissenschaft vertieft und wurden als Modelle für die Erforschung grundlegender chemischer Prozesse verwendet. POMs haben dazu beigetragen, neue Erkenntnisse über die Struktur und Eigenschaften von Materialien zu gewinnen.

Wo POMs eine zentrale Rolle spielen

  • Katalyse und Chemische Synthese: POMs sind exzellente Katalysatoren und spielen eine entscheidende Rolle in der chemischen Industrie. Sie ermöglichen effizientere Reaktionswege und tragen zur Herstellung von Produkten wie Kunststoffen, Pharmazeutika und Treibstoffen bei.
  • Energieumwandlung und -speicherung: POMs werden in der Entwicklung von Batterien und Brennstoffzellen eingesetzt, was die Energieumwandlung und -speicherung revolutioniert hat. Diese Technologien sind entscheidend für erneuerbare Energien und Elektrofahrzeuge.
  • Medizin und Gesundheitswesen: In der medizinischen Forschung werden POMs für die Entwicklung von Arzneimitteln und bildgebenden Verfahren verwendet. Sie tragen dazu bei, Krankheiten zu bekämpfen und die Gesundheitsversorgung zu verbessern.
  • Umweltschutz: POMs spielen eine wichtige Rolle bei der Wasserreinigung und der Reduzierung von Schadstoffen in der Umwelt. Sie tragen zur Bewältigung von Umweltproblemen wie Wasserverschmutzung und Luftverschmutzung bei.

Rudolphina: Drei Worte, die dieses Material am besten beschreiben?

Annette Rompel: Vielseitig, faszinierend und innovativ! POMs zeigen eine bemerkenswerte Vielfalt in ihren Strukturen und Anwendungsmöglichkeiten, von Katalysatoren bis hin zu Materialien für die Medizin. Ihre komplexe Struktur und einzigartigen Eigenschaften faszinieren Wissenschafter*innen seit ihrer Entdeckung bis heute. Und sie inspirieren weiterhin innovative Ansätze in vielen Bereichen, u.a. in der medizinischen Forschung, wo sie neue Möglichkeiten für Behandlungen und Diagnostik bieten.

Rudolphina: Was ist die "Superpower", was die problematische Seite von Polyoxometallaten?

Annette Rompel: Die bemerkenswerteste Superkraft von Polyoxometallaten im medizinischen Bereich liegt in ihrer Fähigkeit, Biomembranen zu durchwandern. Sie können darüber hinaus als Trägersysteme für Medikamente dienen und ermöglichen so eine präzisere Behandlung von Krankheiten. Diese minimiert Nebenwirkungen und maximiert die Wirksamkeit der Medikamente. Eine weitere besondere Eigenschaft von POMs im medizinischen Kontext ist ihre Fähigkeit zur bildgebenden Diagnostik. POM-basierte Kontrastmittel sollen in der Zukunft in bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT) eingesetzt werden, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen und zu diagnostizieren.

Trotz ihrer Vorteile gibt es auch problematische Aspekte von POMs im medizinischen Bereich. Eine Herausforderung besteht darin, sicherzustellen, dass die POM-Trägersysteme biokompatibel und frei von toxischen Rückständen sind, um unerwünschte Reaktionen im Körper zu vermeiden.

Serie: Wissenschafter*innen präsentieren "Materialien der Zukunft"

In dieser Serie stellen Wissenschafter*innen der Uni Wien jeweils ein "Material der Zukunft" vor: das neu und vielversprechend ist oder unsere Gesellschaft in der Vergangenheit besonders geprägt hat. Nächste Woche sprechen Noémie Etienne und Mariama de Brito Henn über Baumwolle als Archiv unserer Geschichte. Baumwolle war über Jahrtausende eine Triebfeder für Innovationen, Globalisierung und Industrialisierung, hat aber auch Probleme wie Sklaverei und Umweltzerstörung mit sich gebracht. Zur Serie

Rudolphina: Wo geben POMs der Forschung noch Rätsel auf?

Annette Rompel: Ein Rätsel betrifft die genauen Wege, wie POMs in Zellen transportiert werden und wie sie ihre Arzneimittel in spezifische Zielbereiche liefern können.

​​​​​​​Rudolphina: Wie wichtig sind Polyoxometallate heute – kann man sich eine Welt ohne Polyoxometallate vorstellen?

Annette Rompel: Nein, denn Polyoxometallate sind in verschiedenen Bereichen von entscheidender Bedeutung, von der Katalyse über die Medizin bis hin zur Energieumwandlung. Sie haben Innovationen vorangetrieben und unser tägliches Leben verbessert.

Rudolphina: Womit beschäftigen Sie sich aktuell in Bezug auf Polyoxometallate?

Annette Rompel: Unser Team konzentriert sich darauf, die Wechselwirkungen zwischen POMs und Zellen besser zu verstehen. Unsere zentrale Forschungsfrage lautet: Wie können wir POMs effektiver nutzen, um Medikamente präzise in Zellen zu transportieren und Krankheiten gezielter zu behandeln?

Rudolphina: Was möchten Sie mit Ihrer Forschung erreichen?

Annette Rompel: Unsere Vision ist es, durch den Einsatz von Polyoxometallaten die Effektivität von Medikamenten zu steigern, Nebenwirkungen zu minimieren und damit die Behandlung von Krankheiten zu revolutionieren. Dies wäre ein bedeutender Fortschritt für die medizinische Forschung und die Patient*innenversorgung!

Metalloxide als Medikamententransporter in die Zelle

Ein Forschungsteam der Universität Wien rund um Annette Rompel und Nadiia Gumerova zeigt in Zusammenarbeit mit der Constructor University in Bremen, dass Polyoxometallate (POMs) biologisch relevante Fracht durch biologische Membranen hindurch transportieren können. Dieser wissenschaftliche Erfolg wurde aktuell im Fachmagazin Advanced Materials publiziert. Er wird dazu beitragen, POMs als Bestandteile von Arzneimitteln der nächsten Generation zu positionieren und so den Bereich der Wirkstoffgabe revolutionieren. Für ihr Projekt "Polyoxometalates for Pharmaceutical Applications" haben Nadiia Gumerova und Annette Rompel die aws Prototypenförderung für Universitäten und Fachhochschulen 2023 erhalten. (Pressemeldung, Universität Wien, 5. Dez. 2023). Zur Pressemeldung

© Annette Rompel
© Annette Rompel
Annette Rompel ist Leiterin des Instituts für Biophysikalische Chemie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die Reinigung und Charakterisierung von Metalloproteinen aus natürlichen Rohstoffen sowie deren Röntgenstrukturanalyse und Sequenzbestimmung, die Synthese von Polyphenolen wie Flavonoiden und deren Metallkomplexe und Polyoxometallat unterstützte Kristallisation von Proteinen.

Rompel studierte Chemie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) und promovierte 1993. Es folgte ein Forschungsaufenthalt am Lawrence Berkeley National Laboratory und Department of Chemistry der University of California, Berkeley. Anschließend wurde sie Research Associate an der WWU. Sie habilitierte sich dort im Jahr 2000 und es folgten Assistenz-, Vertretungs- und Gastprofessuren an Universitäten in Odense, Münster und Wien, bevor sie 2008 eine Professur für Biophysikalische Chemie an der Universität Wien antrat.