Semesterfrage

"Die Zukunft ist materiell"

11. Dezember 2023
Im Interview erklärt Materialforscher Mark Miodownik vom University College London, der am 15. Jänner die Keynote bei der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage hält, worauf es heute bei der Entwicklung neuer Materialien ankommt.
"Wir sind die Materialien und sie sind wir": Am 15. Jänner diskutierte der britische Materialwissenschafter, Autor und Wissenschaftskommunikator Mark Miodownik mit Forscher*innen und Absolvent*innen der Uni Wien bei der Podiumsdiskussion zur Frage: "Aus welchem Stoff wird unsere Zukunft sein?". © Ruby Wright

Rudolphina: Was fasziniert Sie am meisten an Materialforschung bzw. an Ihrer Arbeit? Was hat Ihr Interesse an diesem Thema geweckt? 

Mark Miodownik: Als ich 16 war, wurde ich in der Londoner U-Bahn attackiert. Nachdem ich mich davon erholt hatte und aus dem Krankenhaus entlassen wurde, erfuhr ich, dass mein Angreifer ein winziges Stück dünnen Stahls verwendet hat, um mich damit fast zu töten – eine Rasierklinge. Meine Faszination für Materialien hat damals ihren Anfang genommen. Ich wollte verstehen, wie es möglich ist, dass Metalle so fest und scharf sein können. Seitdem bin ich dabei, dieser Frage auf den Grund zu gehen. 

Rudolphina: Welche Materialien betrachten Sie als Game-Changer – in der Menschheitsgeschichte und für die Zukunft?

Mark Miodownik: Archäolog*innen haben die Zeitalter der Zivilisation nach Materialien benannt, weil diese Game-Changer waren. So wurde die menschliche Zivilisation durch die Herstellung von Kupfer, dann von Bronze und schließlich von Stahl aus der Steinzeit katapultiert. Allerdings verlieren wir dadurch den Blick auf viele transformative Materialien wie Holz, Klebstoffe, Papier, Keramik, Glas usw. In der Neuzeit hat die Entwicklung neuer Materialien das Computerzeitalter hervorgebracht, in dem alles auf Siliziumchips beruht. Sogar die digitale KI-Technologie ist sehr materiell. Sie beruht auf Unmengen an Computerhardware und Energie aus Photovoltaik-Zellen, die ebenso eine Art Siliziumtechnologie sind.

Rudolphina: Warum spielen neue Materialien eine so zentrale Rolle in der Bewältigung der Herausforderungen unserer Zukunft?

Mark Miodownik: Wir sind die Materialien und sie sind wir. Ohne Materialien stünden wir nackt und zitternd im Dreck. Alles ist aus etwas gemacht. Mensch zu sein, bedeutet eine materielle Kultur zu haben. Wenn wir eine Zukunft wollen, wird sie materiell sein.

Rudolphina: Was sind derzeit die größten Herausforderungen bei der Entwicklung von neuen Materialien?

Mark Miodownik: Früher haben wir neue Materialien entwickelt, um die besten Eigenschaften zu erzielen, zum Beispiel für Smartphone-Bildschirme. In diesem Fall: fest, robust, stark, chemisch nicht reaktiv, optisch transparent, elektrisch aktiviert und langlebig. Heutzutage allerdings brauchen wir ein Verständnis für Nachhaltigkeit und Umweltverschmutzung sowie ethische Bedenken lange vor der eigentlichen Produktion. In diesem Fall betrifft das CO2-Emissionen, Luft-, Wasser und Bodenverschmutzung, moderne Sklaverei, usw.

Rudolphina: Haben Sie ein Lieblingsmaterial? 

Mark Miodownik: Schokolade.

Rudolphina: Wenn Sie ein neues, "perfektes" Material entwickeln könnten, welche Eigenschaften sollte dieses haben?

Mark Miodownik: Die Suche nach dem perfekten Material, ein uraltes Bestreben! Es ist die Sprache der Alchemie und der Suche nach dem Stein der Weisen – einem Material, das die Essenz der Materie darstellt. Ein Material, das Blei in Gold verwandeln kann. Zwar ein Mythos, aber ein reizvoller. Heutzutage betrachten wir Materialien eher wie Menschen. Einige sind stark und widerstandsfähig, andere lebendig und anziehend, aber niemand (und auch kein Material) ist perfekt.

Rudolphina: Worüber werden Sie in Ihrer Keynote bei der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage am 15. Jänner 2024 sprechen?  

Mark Miodownik: Um Probleme wie die Plastikverschmutzung und den Klimawandel in den Griff zu bekommen, müssen alle Materialien und Produkte in Zukunft Teil einer Kreislaufwirtschaft sein – sie müssen in erster Linie für die Reparatur und Wiederverwendung konzipiert sein, wobei das Recycling nur der letzte Ausweg ist. Aber wie weit ist diese Zukunft noch entfernt? Fast alle derzeitigen Produkte und Materialien in unseren Häusern und Städten erfüllen diesen Kreislauftest nicht. Die Aufgabe ist also enorm und bedeutet, dass wir praktisch alles neu gestalten müssen – und zwar schnell.  In meiner Keynote gehe ich auf die Herausforderungen dieses Paradigmenwechsels ein und zeige, dass eine der auffälligsten Implikationen darin besteht, dass das Konsumverhalten als Wirtschaftsmodell nicht mit den Klima- und Biodiversitätszielen vereinbar ist.

Lesen Sie auch
Neue Materialien
Neue Materialien gelten als Hoffnungsträger für die akuten Herausforderungen unserer Zeit, stellen uns aber auch vor neue Probleme. Ein Blick auf Werkstoffe, die uns geprägt haben, und solche, die noch kommen.
  • Im Anschluss an seine Keynote im Rahmen der Abschlussveranstaltung zur Semesterfrage diskutierte Mark Miodownik am Podium mit dem Physiker Georg Kresse, der Stadtforscherin Kerstin Krellenberg (beide Uni Wien), dem Climate Lab-Leiter Gebhard Ottacher und der Designerin Heike Stuckstedde im Großen Festsaal an der Uni Wien. 
    Hier können Sie die Podiumsdiskussion nachschauen