Materialien der Zukunft

Die komplexe Maschinerie des Lebens

16. November 2023 von Redaktion
In der Rudolphina-Reihe "Materialien der Zukunft" gibt Physiker Roberto Cerbino Einblick in das "Material des Lebens": Zellgewebe. Und erklärt, warum dessen Erforschung so wichtig für Fortschritte im Gesundheitswesen ist.
Zellgewebe ist nicht nur für Biolog*innen und Mediziner*innen spannend zu erforschen, es ist auch ein Material, das mit physikalischen Methoden untersucht werden kann. Der Physiker Roberto Cerbino widmet sich aktuell mit seinem Team dem Zusammenspiel der physischen Eigenschaften von Zellgewebe und seiner biologischen Funktion. © Andreia Rocha

Rudolphina: Roberto Cerbino, Sie sind Experte für Physik der weichen Materie und – ungewöhnlich für einen Physiker – Zellgewebe. Was genau macht Zellgewebe aus?

Roberto Cerbino: Zellgewebe ist eine Gemeinschaft von Zellen, die Funktionen erfüllt, die eine einzelne Zelle alleine nicht erfüllen könnte. Um das bildlich darzustellen, ziehe ich gerne die alte französische Zeichentrickserie "Es war einmal ... das Leben" heran und stelle mir eine mikroskopisch kleine Welt vor, in der eine Fülle an winzigen Einheiten, die Zellen heißen, nebeneinander existieren und harmonisch zusammenarbeiten, um die komplexe Maschinerie des Lebens zu schaffen.

Es war einmal das Leben: Die Zelle (1986)

Die Entstehung des Universums bildet den Ausgangspunkt dieser Folge der französischen Zeichentrickserie. In der Ursuppe entsteht die erste Zelle, die Urzelle allen Lebens. Und es beginnt eine Reise in das Innere einer Zelle, die von Chromosomen und Ribosomen, Mitochondrien und dem Zellkern handelt. Link zum Video

Rudolphina: Warum wird Zellgewebe als Material bezeichnet und warum ist es für Sie als Physiker von Interesse?

Cerbino: Zellgewebe weist bestimmte physische Eigenschaften auf, wie Elastizität, Viskosität oder Dehnbarkeit, die verändert werden können – fast so wie bei jedem anderen Material. Diese Eigenschaften und die damit einhergehenden Phasenübergänge (z.B. Jamming und Unjamming, d.h. dichtes und lockeres Gewebe) machen Zellgewebe nicht nur zu einem biologischen Konstrukt, sondern auch zu einem Material, das mit physikalischen Methoden untersucht werden kann.

Colourful depiction of cell tissue under the microscope
Epithelzellen bilden die Grenzen zwischen der Außen- und Innenseite eines Körpers. Im Bild: Ergebnis einer Segmentationsanalyse von Zellkernen in einer hochkonfluenten (ineinander fließenden) Epithelzellenmonoschicht. © Fabian Krautgasser

Rudolphina: Welche drei Worte beschreiben Ihrer Meinung nach Zellgewebe am besten?

Cerbino: Dynamisch: Zellgewebe verändert sich ständig, wobei tote durch neue Zellen ersetzt werden. Es befindet sich in einem Zustand fortwährender Aktivität auf allen Ebenen.
Widerstandsfähig: Es kann ohne dramatische Folgen erheblichen Belastungen standhalten. Smart: Zellgewebe verfügt über Fähigkeiten zur Anpassung, Selbstregulierung und zur Reaktion auf externe Reize. Es kann Handlungen einleiten (z.B. sich selbst reparieren), um den Organismus zu schützen.

Rudolphina: Warum sollten wir über Zellgewebe Bescheid wissen?

Cerbino: Weil uns das Fortschritte im Gesundheitswesen ermöglicht, von der Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten bis hin zum Verständnis von Altern. Darüber hinaus geht es auch bei Themen wie Klonen und Gentechnik um Zellgewebe, weshalb es für ethische Debatten und Entscheidungen eine entscheidende Rolle spielt.

Rudolphina: Was ist die Superpower von Zellgewebe?

Cerbino: Ich glaube, die besondere Stärke von Zellgewebe liegt in seinem Verhalten als smartes weiches Material, das erstaunliche Selbstorganisations- und Regenerierungsfähigkeiten besitzt. Das Problem daran ist, dass wir noch immer nicht wissen, wie wir diese smarten Materialien im Labor nachbilden können.

Rudolphina: Gibt Zellgewebe noch gewisse Rätsel auf?

Cerbino: Trotz aller bisherigen Fortschritte wissen wir immer noch nicht sehr viel über Zellgewebe. Wir müssen beispielsweise viel besser verstehen, wie Gewebe ihre mechanischen Eigenschaften steuern, um Funktionen wie Wundheilung und Embryogenese zu erfüllen. Denn wenn diese Steuerungsmechanismen nicht so funktionieren wie sie sollen, kann es pathologisch werden.

Ein umfassendes Verständnis von Zellgewebe könnte es in Zukunft ermöglichen, beschädigte Organe und Gewebe ersetzen, Medikamente auf ethischere Art und Weise testen und Krankheiten einzudämmen.
Roberto Cerbino

Rudolphina: Wo sehen Sie die Zukunft von Zellgewebe?

Cerbino: Sollten die laufenden Bemühungen, die Funktionsprinzipien von Zellgewebe zu entschlüsseln, zu steuern und zu imitieren, erfolgreich sein, ist eine Zukunft mit unendlichen Anwendungsmöglichkeiten denkbar. Zum Beispiel könnten wir beschädigte Organe und Gewebe ersetzen, Medikamente auf ethischere Art und Weise testen, die körperliche Leistung von Menschen verbessern und Krankheiten eindämmen. Viele dieser Ziele liegen allerdings noch in weiter Ferne, aber wir konnten in vielen Bereichen dank interdisziplinärer Forschung Riesenschritte setzen.

Serie: Wissenschafter*innen präsentieren "Materialien der Zukunft"

In dieser Serie stellen Wissenschafter*innen der Uni Wien jeweils ein "Material der Zukunft" vor, das neu und vielversprechend ist oder unsere Gesellschaft in der Vergangenheit besonders geprägt hat. Nächste Woche spricht der Chemiker Freddy Kleitz über ein nahezu universal einsetzbares Material, Siliziumdioxid. Man findet es als Baumaterial, in der Elektronik und Solarenergie oder Nahrungsmittelzusatzstoff; nanoporöses Siliziumdioxid ist auch in der Medizin ein großer Hoffnungsträger. Zur Serie

Rudolphina: Mit welcher konkreten Frage zum Thema Zellgewebe beschäftigen Sie und Ihr Team sich aktuell?

Cerbino: Wir erforschen derzeit das Zusammenspiel der physischen Eigenschaften von Gewebe und seine biologische Funktion. Im Speziellen konzentrieren wir uns darauf, wie das Wissen über die mechanischen Eigenschaften von Gewebe, wie Elastizität oder Viskosität und das kollektive Verhalten von Zellen zum Verstehen und zur Kontrolle von Krebs und Metastasen von Bedeutung sein können.

Tatsächlich genießen die Konzepte von Jamming und Unjamming seit kurzem auch Aufmerksamkeit in Bezug auf Zellgewebe, um Krebs zu erforschen. In einem sehr dichten (jammed) Zustand sind die Zellen in einem Gewebe sehr dicht beieinander, verhalten sich wie ein Festkörper und schränken damit Bewegung ein. Im Gegensatz dazu führt Unjamming das Gewebe in einen eher flüssigen Zustand über, wodurch die Zellen sich freier bewegen können. Das kann bei krebsartigem Gewebe oft beobachtet werden, wodurch Krebszellen in das sie umgebende Gewebe eindringen und metastasieren. Das beweist, dass Zellen die zugrunde liegende Physik steuern können.

Jammed and unjammed cell tissue
Die oberen Ansichten zeigen die ursprüngliche Konfiguration der Zellen und die unteren Ansichten die Konfiguration nach einer gewissen Zeitspanne. Die Illustration zeigt, dass ein Verbund an gefärbten Zellen, der sich in der Mitte befindet, im Falles eines festen, dichten Gewebes (linke Spalte) in der Mitte bleibt, wobei er sich in einem flüssigen, nicht dichten Gewebe (rechte Seite) ausbreitet. © Roberto Cerbino

Rudolphina: Was möchten Sie mit Ihrer Forschung erreichen?

Cerbino: Wir haben zwei Ziele im Sinn: Erstens möchten wir verstehen, wie Zellen und Gewebe mechanische Kräfte erkennen und darauf über verschiedene zeitliche und räumliche Maßstäbe hinweg reagieren. Das ist eine zentrale Frage mit deutlichen Folgen in der Biologie. Wenn wir dies verstehen, könnten wir künstliche Gewebe systematisch und fundiert gestalten und wesentliche Einsichten in Leiden, wie die Tumormetastase, gewinnen.
Zweitens wollen wir die einzigartigen, dynamischen und komplexen Eigenschaften von lebendem Gewebe erforschen, um mehr über neue physikalische Gesetze zu erfahren, die sich gänzlich von jenen unterscheiden, denen inerte Materialien (träge Materialien, die mit üblichen Reaktionspartnern wie Luft oder Wasser nicht oder kaum reagieren) im Gleichgewichtszustand folgen.

Rudolphina: Wo könnten künstliche Gewebe, abgesehen von der Medizin, Anwendung finden? Könnten diese auch für Technologie oder in anderen Bereichen eingesetzt werden?

Cerbino: Das ist schwer vorherzusagen. Allerdings können Laborfleisch oder Leder aus dem Labor als eine Art künstliches Gewebe angesehen werden. Hier arbeiten mehrere Unternehmen an der Produktion von künstlichem Fleisch und Leder, die an bestimmte Eigenschaften angepasst werden können und so eine nachhaltige und tierfreie Alternative zu herkömmlichem Gewebe bieten.

© Roberto Cerbino
© Roberto Cerbino
Roberto Cerbino ist Physiker, der auf weiche Materie spezialisiert ist und im Bereich Optik und Biophysik forscht. Vor seiner Professur an der Fakultät für Physik an der Universität Wien 2021, war er 14 Jahre lang an der Fakultät für Medizin an der Universität Mailand in Italien tätig. Außerdem war er in Freiburg in der Schweiz und als Gastforscher am ENS in Lyon in Frankreich und an der Universität Ottawa in Kanada tätig. Zusätzlich ist Cerbino als Associate Editor Mitherausgeber der Fachzeitschrift Soft Matter.