Rudolphina Roadtrip

Wenn der Pegel sinkt: Ökosystemforschung am Neusiedler See

13. September 2023 von Siegrun Herzog
Diesmal führt unser Roadtrip an den westlichsten Steppensee Europas. Inmitten des Nationalparks Neusiedler See-Seewinkel erforschen Geoökologe Stephan Glatzel und sein Team, wie sich der Klimawandel auf den Schilfgürtel auswirkt und das Ökosystem Neusiedler See verändert.

Je näher wir dem See kommen, desto steppenartiger erscheint die Landschaft: Ein Storch stochert in der Wiese nach Frühstück, eine Herde grauer Steppenrinder döst friedlich in der Morgensonne, ringsum pannonische Weite. Obwohl wir nur rund 70 Kilometer von Wien entfernt sind, fühlen wir uns plötzlich sehr weit weg und in einem ganz speziellen Naturraum angekommen.

Die Biologische Station Neusiedler See in Illmitz, wo wir heute die Geoökolog*innen Stephan Glatzel und Pamela Baur treffen, liegt inmitten des Nationalparks Neusiedler See-Seewinkel – praktisch, dass Wissenschafter*innen hier alle für die Region charakteristischen Landschaftstypen quasi vor der Haustür finden: vom offenen Seewasser über Salzlacken und Tierweiden bis hin zum Schilfgürtel. Und genau dieser ist heute unser Revier.

Wetland Forschung: Was passiert, wenn der Schilfgürtel am Neusiedler See austrocknet?

Die Kamera begleitet Stephan Glatzel und Pamela Baur in den Schilfgürtel des Neusiedler Sees, über Stege und hinauf auf den Messturm. Im Video zeigen die Wissenschafter*innen, wie sie den Treibhausgasaustausch im Schilfgürtel messen, und geben Ausblick auf mögliche Auswirkungen des sinkenden Wasserspiegels auf den Schilfgürtel sowie auf das Ökosystem des Neusiedler Sees. © Benjamin Furtlehner

Auf selbstgebauten Stegen durchs Schilf

Auf einem Feldweg geht es durch den Schilfgürtel entlang des ein Kilometer langen Kanals in Richtung offener Seefläche. Unterwegs treffen wir auf Ornitholog*innen, die gerade Vogelberingungen durchführen.

Mitten im Schilfgürtel steht das Herzstück der Longterm Wetland Ecosystem Research Core Facility der Universität Wien (LTWER): der ca. 8,5 Meter hohe Eddy-Kovarianz-Messturm. "Mit dieser Anlage messen wir kontinuierlich den Treibhausgasaustausch zwischen dem Schilfgürtel und der Atmosphäre", erklärt Pamela Baur, die sich in ihrer Doktorarbeit mit dieser Thematik befasst hat.

Long Term Wetland Ecosystem Research (LTWER)

Langzeitmonitoring ist gerade in der Ökosystemforschung wichtig, um die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf die Umwelt zu verstehen. Es sei zentral, dass Messdaten über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren gesammelt werden, so Stephan Glatzel, der die Arbeitsgruppe Geoökologie am Institut für Geographie und Regionalforschung der Uni Wien leitet. Denn so können auch statistische Ausreißer, etwa ein besonders trockenes oder feuchtes Jahr, erfasst werden.

Die LTWER Core Facility der Universität Wien betreibt seit 2018 eine Eddy-Kovarianz-Messanlage im Schilfgürtel des Neusiedler Sees. Mit dieser Messanlage können die kontinuierlichen Austauschprozesse von CO2, Methan und Wasser zwischen Biosphäre und Atmosphäre auf eine nicht-invasive Art bestimmt werden.

Schilf als Kohlenstoffspeicher

Besonders interessant ist der Schilfgürtel des Neusiedler Sees für die Geoökolog*innen, weil die Kohlenstoffspeicherung und Methanfreisetzung in derartigen Ökosystemen bisher kaum erforscht ist. Als Feuchtgebiet verändert sich der Schilfgürtel besonders stark infolge des Klimawandels.

Der sinkende Wasserspiegel des Neusiedler Sees der letzten Jahre habe zu einer besonders raschen Ausbreitung des Schilfs innerhalb des Schilfgürtels geführt, so Glatzel. Und Baur ergänzt: "Wir haben herausgefunden, dass sich der Schilfgürtel zwischen den Jahren 2019 und 2021 von einer starken zu einer schwachen Kohlenstoffquelle entwickelt hat. Wir finden eine verringerte Methanausstoßung, dafür aber mehr Speicherung von Kohlenstoff in der Schilfbiomasse".

Kinderstube von Fischen und Vögeln in Gefahr

Der sinkende Wasserspiegel der offenen Seefläche hat auch Auswirkung auf den Schilfgürtel selbst. "Dort fallen die Wasserflächen trocken, das Schilf breitet sich aus und übernimmt diese Flächen. Dadurch finden wir auch weniger – bis fast keinen – lateralen Austausch zwischen offener Seefläche und Schilfgürtel", erklärt Baur.

In künftigen Projekten wollen Stephan Glatzel und sein Team ihre geoökologische Forschung stärker mit der zoologischen Forschung verbinden und die Folgen der Austrocknung auf die Tiere im Schilf untersuchen: "Wir sind gespannt, wie die Nahrungsketten im Wasser reagieren, wenn sich der Schilfgürtel ausbreitet. Die zunehmende Abkoppelung des Schilfgürtels vom offenen Wasser hat sicherlich enorme Konsequenzen auf Vögel und Fische, die ihre Kinderstube im Schilf haben".

Was passiert, wenn der Neusiedler See austrocknet?

Der Neusiedler See beheimatet das, nach dem Donaudelta, zweitgrößte zusammenhängende Schilfvorkommen in Europa. Dass sich mit sinkendem Wasserspiegel der Bewuchs immer mehr ausbreite, sei zunächst nicht unbedingt negativ, so Glatzel. Schließlich erfüllt das Schilf wertvolle Ökosystemleistungen: Es nimmt das Treibhausgas CO2 aus der Atmosphäre auf, speichert es in Form von Kohlenstoff in Biomasse und Boden und trägt damit zur Abmilderung des Klimawandels bei. Und: Schilf verdunstet große Mengen an Wasser. Dies hat lokal eine kühlende Wirkung und könnte sogar bewirken, dass letztlich mehr Wasser in der Region bleibt, weil die erhöhte Luftfeuchtigkeit wiederum zu Niederschlägen führt. Wir finden den Aufenthalt im Schilfgürtel trotzdem schweißtreibend. 

"Als Problem sehe ich eine mögliche Austrocknung des Neusiedler Sees in erster Linie für die Tourismuswirtschaft", sagt Glatzel, alles andere sei aus Sicht des Geoökologen vor allen Dingen "interessant". Ein Katastrophenszenario würde erst eintreten, wenn tatsächlich kein Schilf mehr wachsen würde – Vögel würden dann ihre Brutgebiete verlieren, Zugvögel einen wichtigen Ort für ihren Zwischenstopp. 

"Der Neusiedler See ist ein äußerst dynamisches Ökosystem. Diese Wechsel von Austrocknung und Wiederbefeuchtung hatten wir in der Vergangenheit auch schon, durch den Klimawandel werden sie natürlich noch verstärkt", so Glatzel. Der Wissenschafter plädiert dafür, diese Dynamik nicht als Problem wahrzunehmen, sondern als Eigenheit dieses Ökosystems zu akzeptieren und sich zu überlegen, wie man die Region dennoch nachhaltig für den Tourismus attraktiv gestalten könnte.

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Rudolphina Roadtrip zur Biologischen Station Illmitz

  • Mit dem REX 64 von Wien Hauptbahnhof über Bruck an der Leitha nach Neusiedl am See (Fahrtdauer 40 min), von dort geht es mit dem Bus 290 weiter nach Illmitz (33-37 min). Die restlichen 3 km zur Biologischen Station Neusiedler See legt man am besten mit dem Rad zurück (ca. 10 min); zu Fuß geht man noch einmal rund 40 min. 
  • Den Nationalpark Neusiedler See-Seewinkel kann man auf eigene Faust oder bei Veranstaltungen und geführten Touren erkunden. 
  • Die Biologische Station Neusiedler See bietet regelmäßig Tage der offenen Tür an und nimmt an Veranstaltungen wie der Langen Nacht der Forschung teil; seit Jahrzehnten werden hier auch Lehrveranstaltungen verschiedener Unis und Forschungseinrichtungen abgehalten. Weitere Infos
  • Es gibt auch die Möglichkeit, Ferialpraktika oder ein freiwilliges Umweltjahr zu absolvieren.
  • Aktuelle Informationen zum Wasserstand des Neusiedler Sees finden Sie hier: Wasserportal Burgenland.
  • Wer mehr über den Themenkomplex Klimawandel erfahren will, dem empfehlen wir den kostenlosen digitalen Selbstlern-Kurs Klimawandel MOOC (KliMO) der Uni Wien.
© Alexander Bachmayer
© Alexander Bachmayer
Pamela Baur ist seit Frühjahr 2020 Doktorandin in der Arbeitsgruppe Geoökologie sowie Mitglied der Vienna Doctoral School of Ecology and Evolution (VDSEE), beide an der Universität Wien. Sie beschäftigt sich mit den Treibhausgasaustausch von Feuchtgebieten in Österreich, wie dem Schilfgürtel am Neusiedlersee und dem Pürgschachen Moor.
© Alexander Bachmayer
© Alexander Bachmayer
Stephan Glatzel ist seit März 2014 Professor für Geoökologie am Institut für Geographie und Regionalforschung sowie Mitglied im Forschungsverbund Umwelt und Klima, beide Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Messung, Modellierung und Regionalisierung von Treibhausgasflüssen, der Kohlenstoff- und Stickstoffhaushalt von Mooren, Wäldern und Agrarökosystemen sowie Bodengeographie.